Was ist Tantra?

Tantra ist eine spirituelle Tradition, die ihren Ursprung auf dem indischen Subkontinent hat und deren Wurzeln bis ins erste Jahrtausend n. Chr. zurückreichen. Es definiert sich nicht als eigenständige Religion, sondern vielmehr als eine tiefgreifende spirituelle Strömung, die sowohl im Hinduis­mus, Buddhismus als auch im Jainismus prägenden Einfluss gefunden hat. Tantra lässt sich am ehesten als ein Weg der spirituellen Lebensführung oder als eine Samm­lung von Lehren und Techniken begreifen, die die persönli­che spiri­tuelle Entwicklung fördern.

Die tantrischen Schriften, bekannt als Tantras, umfassen eine Vielzahl von Ritualen, Anweisungen und philosophi­schen Konzepten. Sie gründen auf der Vorstellung, dass die gesamte Schöpfung eine Manifestation einer einzigen, un­trennbaren Wirklichkeit ist, die oft in Form verschiedener Gottheiten verehrt wird. Das vorrangige Ziel des Tantra ist es, diese allumfassende Wirklichkeit unmittelbar zu erfah­ren und in das eigene Sein zu integrieren. Dabei soll das Bewusstsein erweitert, entwickelt und entfaltet werden.

A brotherhood of tantric practitioners

Das Sanskritwort “Tantra”, das unter anderem „Gewebe“ oder „System“ bedeutet, leitet sich von der Wurzel „tan“ ab, was „ausdehnen“ (im Sinne von Bewusstseinserweite­rung) oder „weben“ bedeutet. In Zeiten vor dem Buddhis­mus nutzte man das Bild des Webens meta­phorisch für das Verfassen heiliger Texte. Tantra bezieht sich zudem auf die Ausführung komplexer Rituale, die ähn­lich einzelner Fäden zu umfassenden Zeremonien ver­knüpft werden.
Tantra ist ein Erfahrungsweg

Der Tantrismus versteht sich als ein Pfad der Erkennt­nis, der darauf abzielt, die in jedem Wesen innewohnende Er­leuchtung freizulegen und innerhalb eines einzigen Le­bens zur vollen Entfaltung zu bringen. Er vertritt die An­sicht, dass selbst Energien, die normalerweise als negativ be­trachtet werden, wie Aggression oder Gier, auf dem tantris­chen Pfad genutzt und in positive Kräfte transfor­miert werden können, um auf eine höhere Ebene zu gelan­gen.

In der tantrischen Praxis wird der direkten Erfahrung (Vijnana) eine größere Bedeutung beigemessen als theore­tischem Wissen (Jnana). Diese unmittelbare Erfahrung – das Eintauchen in die Kraft, die Rituale, die Liebe, die Weis­heit und das körperlich wahrgenommene Verständnis jeder Form von Realität – steht im Mittelpunkt. Rituale dienen dem Tantriker nicht nur dazu, temporäre oder spirituelle Ziele zu erreichen, sondern bieten die Chance, die eigene innere Tiefe und das Wesen der Natur direkt zu erfahren.

Im Tantra kann letztlich alles zum Symbol des Heiligen avancieren. Diese Haltung ermöglicht es Praktizierenden, unkonventionelle Lebensweisen und rituelle Praktiken an­zunehmen, die von der Ausübung sexueller Rituale im Dienste der Erleuchtung bis hin zur Verwendung traditio­nell als verboten oder unrein geltender Substanzen (wie Al­kohol, Fleisch, Exkremente) reichen können.

Für einen Tantriker ist das reine Ansammeln von Wissen nicht genug. Erst durch das Erleben und Erfahren der Er­kenntnis im eigenen Geist und Körper kann sie sich in eine tief empfundene Wahrheit verwandeln.
Tantra ist ein Weg der Initiation

Shiva und Shakti

Das traditionelle Tantra wird als ein Weg der Initiation (Einweihungsritual) betrachtet, bei dem die formelle Ein­führung durch einen erfahrenen Lehrer – etwa einen Guru oder Lama – von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Lehrer weist den Schüler in die Geheimnisse und Metho­den der tantrischen Praxis (Sadhana) ein.
Während der Ein­weihung und in der fortlaufenden Pra­xis spielen Mantras (heilige Laute oder Silben), Mudras (symbolische Handges­ten) und Mandalas bzw. Yantras (geometrische Darstellun­gen, die als Visualisierungshilfen, als Meditationswerkzeuge oder zur Abgrenzung eines heili­gen Raumes dienen) eine zentrale Rolle. Es wird auch mit der Visualisierung von Me­ditationsgottheiten gearbeitet, wobei sich Lehrer und Schüler mit diesen Wesenheiten identifi­zieren, die er­leuchtete Qualitäten verkörpern.

Das Wesen des Tantra liegt in seiner Fähigkeit, uns mit unserem tiefsten Inneren und der göttlichen Quelle zu ver­binden. Es zielt darauf ab, die scheinbare Trennung zwi­schen Geist und Materie zu überbrücken und uns die grundlegende Einheit allen Daseins erkennen zu lassen.

Rotes, weißes und schwarzes Tantra

Die Unterscheidung zwischen rotem, weißem und schwar­zem Tantra dient dazu, die unterschiedlichen Me­thoden und Herangehensweisen innerhalb der tantrischen Praxis zu kategorisieren. Rotes Tantra fokussiert auf die Verbin­dung männlicher und weiblicher Energien, oft durch spiri­tuelle Sexualität. Sexualität wird in dieser Tradition als hei­lige Kraft gesehen, die zur Erleuchtung führen kann. Die Nutzung sexueller Energie zielt auf spirituelles Wachstum und die Erweiterung des Bewusstseins ab. Rotes Tantra be­tont zudem Liebe, Hingabe und Nähe zwischen Partnern, wobei sexuelle Akte als sakral und spirituell aufgefasst wer­den, um die Bindung zu intensivieren. Die Aktivierung der Chakren, die Energiezentren im Körper, ist dabei zentral, um spirituelle Einsichten zu gewinnen.

Meditation

Im Gegensatz dazu steht weißes Tantra, das sich auf Meditation, Atemübungen, Mantras und Rituale konzen­triert, die in der Regel nicht mit sexueller Aktivität verbun­den sind. Diese Praxis erfordert strikte Disziplin und Fo­kussierung, mit dem Ziel, das Bewusstsein zu erhöhen und Erleuchtung zu erlangen, ohne dabei sexuelle Energie ein­zubeziehen. Weißes Tantra strebt die Reinigung und Transformation von Geist und Körper an, um innere Blo­ckaden zu lösen und spirituelle Freiheit zu erreichen.

Schwarzes Tantra konzentriert sich auf die Ausübung von Macht und die Manipulation von Ereignissen für eigene oder fremde Zwecke. Es beinhaltet oft rituelle Praktiken, die darauf abzielen, Kontrolle über andere zu erlangen oder persönliche Ziele auf Kosten anderer zu erreichen.

Es ist essentiell zu beachten, dass die Bezeichnungen “rot“, “weiß“ und “schwarz“ nicht in allen tantrischen Schulen geläufig sind und ihre Interpretation variieren kann. Vor der Ausübung ist es ratsam, sich mit einem er­fahrenen Lehrer oder einer Lehrerin auseinanderzusetzen, um sicherzustellen, dass die ausgewählte Praxis den per­sönlichen spirituellen Zielen und ethischen Grundsätzen entspricht.

Tantra im heutigen Indien

Der zeitgenössische Inder assoziiert mit dem Begriff Tantra wahrscheinlich vorrangig magische Rituale oder die esote­rischen Praktiken geheimnisvoller Personen. Es kommt nur selten vor, dass Hindus, die in Indien leben, of­fen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Tantra spre­chen oder den Begriff mit tiefgreifender Spiritualität in Verbindung brin­gen. Im Hinduismus bezieht sich der Be­griff Tantra meist auf Schriften und Lehren, die in engem Zusammenhang mit der allgemeinen hinduistischen Tradi­tion stehen, jedoch auch spezifische Aspekte, insbesondere aus der esoteri­schen und mystischen Strömung, umfassen.

Tantra im Westen

In der westlichen Welt herrschen zahlreiche Missverständ­nisse über Tantra, die häufig zu einer Veren­gung des Kon­zepts auf seine sexuellen Komponenten füh­ren. Diese ver­einfachte Sichtweise steht im Gegensatz zu den vielschich­tigen Aspekten des klassischen Tantra, in de­nen Se­xualität nicht unbedingt eine zentrale Rolle spielt. Ein Grund für diese Fehlinterpretation könnte die Assozia­tion von Tantra mit dem Kamasutra sein, einem altindi­schen Werk über die Liebe, das auch sexuelle Techniken behan­delt, aber mit Tantra nichts zu tun hat. Im modernen Wes­ten wird Tantra oft als Neotantra angeboten, wobei die ur­sprünglichen hin­duistischen oder buddhistischen Ele­mente zugunsten einer Fokussierung auf die Verbesserung der se­xuellen Erfahrung und das Streben nach einer Art se­xuell-spirituellen Wohl­befindens in den Hintergrund ge­rückt sind. Doch Tantra bietet weit mehr als dies und um­fasst eine holistische Sicht auf die Welt, die auf spirituellem Wachstum und der Er­leuchtung basiert. Tantra ist eine tiefgründige spirituelle Tradition, die das gesamte Spek­trum des menschlichen Da­seins einbezieht. ► siehe auch Traditionelles Tantra vs. Westliches Tantra

Shiva verehrt Shakti

Essentielle Leitgedanken des Tantra

Tantra ist ein Lebensweg, der alle Formen des Daseins willkommen heißt und nichts ausschließt. Es gibt keine Ab­lehnung von Personen, spirituellen Pfaden oder psycholo­gischen Bereichen im Tantra; es umfasst das gesamte Spektrum des Lebens. Jedes Element hat einen spezifi­schen und berechtigten Grund für seine Existenz. Alles ma­nifestiert sich aus dem höchsten, wertfreien Bewusstsein heraus.

Tantra offenbart, dass jeder Moment unseres Daseins – jede Emotion, jeder Gedanke und jede Handlung – eine tiefgreifende und kraftvolle Wahrheit birgt. Diese Wahrhei­ten, im klaren Licht des Bewusstseins betrachtet, können rasch den Weg zur persönlichen Befreiung ebnen.

Durch Tantra wird die Einzigartigkeit des Individuums geehrt und die Notwendigkeit hervorgehoben, dass sich je­der Mensch auf seine individuelle Art und Weise entfalten sollte. Es existiert keine universelle Lösung, die für alle passt. Stattdessen sind wir Teil einer kontinuierlichen Evo­lution, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Tantra steht der Kultur, in die es integriert wird, nicht ablehnend gegenüber.

Der tantrische Weg ist nicht für jedermann geeignet, sondern richtet sich an diejenigen, die den Mut zum Sprung ins Unbekannte haben. Das tantrische Leben umfasst auch die Offenheit, alle Gefühle zuzulassen, unabhängig davon, ob diese von dir selbst oder anderen als positiv oder negativ bewertet wer­den.